BLOMSTEIN hat in einem vorherigen Beitrag bereits den kürzlich vorgestellten Brexit-Plan der britischen Premierministerin Theresa May analysiert. In diesem Beitrag befassen wir uns mit den Auswirkungen des Brexits auf das Vergaberecht.
Im Wahlkampf warben die Brexit-Befürworter noch mit möglichen Einsparungen in Höhe von 1,6 Mrd. GBP durch ein vereinfachtes, vom Europarecht befreites Vergabewesen. Nun, da der Brexit beschlossene Sache ist, stellt sich die Frage, ob ein autonomes britisches Vergaberecht tatsächlich Realität wird. Zwar wird Großbritannien durch den Austritt aus der EU von seinen europarechtlichen Verpflichtungen, ausländischen Unternehmen Zugang zu den eigenen öffentlichen Ausschreibungen zu gewähren, frei. Der Brexit ändert jedoch nichts daran, dass auch europäische Unternehmen nach fortgeltendem britischen Recht an öffentlichen Ausschreibungen in Großbritannien weiterhin teilnehmen können.
Es ist jedoch zu erwarten, dass Großbritannien und die EU ihre Zusammenarbeit im Bereich Vergabewesen auf eine neue völkerrechtliche Grundlage stellen werden, um Gewissheit zu haben. Am wahrscheinlichsten ist es, dass dies im Rahmen eines umfassenden Freihandelsabkommens geschehen wird.
Status quo
Zumindest für den Zeitraum der Verhandlungen bleibt vorerst alles so, wie es ist. Und auch am Tag Eins nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU wird sich für britische und europäische Unternehmen zunächst wenig ändern.
Denn die EU-Richtlinien zum Vergaberecht differenzieren grundsätzlich nicht zwischen Bietern aus EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten. Britische Unternehmen können also weiterhin an Ausschreibungen in EU-Mitgliedstaaten teilnehmen. Einzig die Sektoren-Richtlinie (EU-RL 2014/25/EU) sieht die Möglichkeit vor, einzelne Bieter aus Drittstaaten unter engen Voraussetzungen auszuschließen; große praktische Relevanz hat dies bislang jedoch nicht erlangt. Zwar plant die Kommission eine Verordnung, die es ihr erlauben würde, Bieter aus Drittstaaten, die Unternehmen aus EU-Mitgliedstaaten den Zugang zu ihrem öffentlichen Beschaffungsmarkt erschweren, mit einem Preisaufschlag zu belegen. Die Verordnung könnte der Kommission in künftigen Verhandlungsrunden mit Drittstaaten als Druckmittel dienen, um die Gegenseitigkeit der eingegangenen Verpflichtungen zu gewährleisten. Bleibt es jedoch beim Status quo, behalten britische Unternehmen auch nach dem Brexit ihren Zugang zum öffentlichen Beschaffungsmarkt in der EU.
Auch in Großbritannien ändert sich mit dem Ausscheiden aus der EU zunächst nichts. Denn soweit im Vergaberecht europarechtliche Vorgaben bestehen, wurden diese durch nationale Rechtsakte in das britische Recht umgesetzt. Sofern diese Rechtsakte nicht ausdrücklich durch eine „Repeal Bill“ aufgehoben werden, bleiben sie als Bestandteil des nationalen Rechts auch nach dem Brexit wirksam. Es sind derzeit keine Pläne der britischen Regierung zum Erlass einer „Repeal Bill“ bekannt; stattdessen soll wohl der acquis communautaire erhalten bleiben. Unternehmen aus EU-Mitgliedstaaten behalten also zunächst Zugang zu britischen Ausschreibungen.
Die britischen Regelungen müssen jedoch nicht länger richtlinienkonform ausgelegt werden. Britische Gerichte können fortan von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) abweichen und müssen auch nicht länger Vorlageersuchen an den Gerichtshof richten. Zudem werden die Regelungen zumindest in Teilen (z.B. hinsichtlich der Ausschreibungspflicht in den europäischen Mitteilungsplattformen) bei einem Austritt aus der EU undurchführbar.
Allerdings entfällt mit dem Brexit die europarechtliche Verpflichtung im Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien, fremden Unternehmen jeweils Zugang zu öffentlichen Aufträgen zu gewähren. Insofern ist zu erwarten, dass die britische Regierung und die Kommission zu gegebener Zeit Verhandlungen zur Neuregelung des Vergabewesens aufnehmen werden.
Freihandelsabkommen nach dem Vorbild Kanada
Wie die britische Premierministerin kürzlich bekannt gegeben hat, wird aus britischer Sicht der Abschluss eines Freihandelsabkommens favorisiert.
Am wahrscheinlichsten scheint es daher, dass der Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen durch ein entsprechendes Kapitel als Teil eines umfassenden Freihandelsabkommens völkerrechtlich verankert wird. Als Beispiel kann hier etwa das kürzlich abgeschlossene Abkommen mit Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) dienen, das ein eigenes Kapitel über das Vergabewesen enthält.
Durch ein solches bilaterales Abkommen bietet sich die Möglichkeit, nach Vorbild der EU-Richtlinien oder auf individueller Basis sektorweise den Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen zu regeln und ggf. auch bestimmte Branchen aus dem Anwendungsbereich auszuschließen. Auch hinsichtlich der Folgen von Rechtsverstößen bei öffentlichen Ausschreibungen und deren gerichtlicher Durchsetzbarkeit könnten individuelle Vereinbarungen getroffen werden. Hier wären unter Umständen auch verfahrensrechtliche Erleichterungen im Vergleich zu den bisherigen EU-Richtlinien möglich, um dem britischen Wunsch nach weniger Bürokratie zu entsprechen.
Beitritt zum WTO Government Procurement Agreement
Können sich Großbritannien und die EU nicht auf den Abschluss eines bilateralen Abkommens einigen, so stellt ein Rückgriff auf die Regeln der WTO zumindest im Vergaberecht keine gangbare Notlösung dar.
Denn im Vergaberecht besteht gerade kein multilaterales, alle WTO-Mitgliedstaaten gleichermaßen bindendes Abkommen. Zwar enthält das plurilaterale WTO-Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (WTO Government Procurement Agreement, GPA) Regelungen, die es ausländischen Bietern erlauben, an öffentlichen Ausschreibungen in anderen Mitgliedstaaten teilzunehmen. Allerdings bedarf das Abkommen einer separaten Mitgliedschaft und unterscheidet sich dadurch diametral von den übrigen WTO Verträgen. Jeder teilnehmende Staat muss zudem in einem Annex erklären, für welche Arten von öffentlichen Aufträgen (aufgeschlüsselt nach bestimmten Gütern und Dienstleistungen) er sich verpflichtet, die im Abkommen enthaltenen vergaberechtlichen Bestimmungen zu erfüllen.
Die EU ist Mitglied des WTO GPA – wie auch einige ihrer wichtigsten Handelspartner wie z.B. Japan, Kanada und die USA. Sie ist in ihrem Annex Verpflichtungen eingegangen, deren Reichweite im Wesentlichen dem Anwendungsbereich der EU-Richtlinien entspricht. Großbritannien hingegen ist bisher nur als Mitglied der EU Vertragsstaat des WTO GPA. Verlässt Großbritannien die EU, so verlieren die von der EU eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen für Großbritannien ihre Gültigkeit. Großbritannien müsste dem WTO GPA erneut in eigenem Namen beitreten.
Zwar behalten britische Unternehmen auch nach dem Brexit gemäß geltendem EU-Recht Zugang zum europäischen Markt (siehe oben). Allerdings entfällt mit dem Austritt Großbritanniens auch die Verpflichtung weiterer Drittstaaten, wie z.B. der USA oder Japans, britischen Unternehmen Zugang zu ihren nationalen Beschaffungsmärkten zu gewähren. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Großbritannien – unabhängig von den Verhandlungen über ein bilaterales Abkommen mit der EU – rasch versuchen wird, dem WTO GPA in eigenem Namen beizutreten.
Nach dem Völkerrecht erfordert dies die Zustimmung der übrigen Vertragsstaaten des WTO GPA, inklusive der EU. Von Seiten der EU gilt es nicht als ausgemacht, dass die Kommission dem Beitritt Großbritanniens zum WTO GPA ohne Bedingungen zustimmt. So ist es vorstellbar, dass die Kommission ihre Zustimmung verweigert, sofern der Abschluss eines umfassenden bilateralen Abkommens scheitert, oder ihre Zustimmung zumindest erst nach Abschluss der „post-Brexit“-Verhandlungen erteilt. Letztlich liegt jedoch der Beitritt Großbritanniens zum WTO GPA auch im europäischen Interesse, da die Teilnahme europäischer Unternehmen an britischen Ausschreibungen damit auch ohne bilaterales Abkommen völkervertraglich abgesichert würde.
Allerdings bringt die Mitgliedschaft im WTO GPA im Vergleich zur EU-Mitgliedschaft einige Nachteile mit sich. So gibt es – anders als im Europarecht – im WTO GPA keine allgemeinen Grundsätze, die für Ausschreibungen unterhalb der EU/GPA-Schwellenwerte gelten. Ferner bleiben die WTO GPA-Verpflichtungen der EU u.a. im Verteidigungs-, Post-, Gas- und Versorgungsbereich gegenüber den Regelungen der entsprechenden Richtlinien zurück. Zudem besteht im Rahmen des WTO GPA kein effektiver Rechtsschutz. Das WTO-Abkommen schafft keine subjektiven Rechte, auf die sich benachteiligte Unternehmen vor Gericht direkt berufen können. Der WTO-Streitbeilegungsmechanismus hingegen ist langwierig und kann unmittelbar nur von Staaten angerufen werden.
Fazit
Bleiben der europäische und der britische Gesetzgeber untätig, gelten in Großbritannien die bisherigen europarechtlich determinierten Regelungen zum Vergaberecht fort. Für europäische und britische Unternehmen würde sich dann wenig ändern. Allerdings fehlt es dann an einer völkerrechtlichen Grundlage für die Teilnahme ausländischer Bieter an öffentlichen Ausschreibungen im Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien. Es ist daher zu erwarten, dass Großbritannien und die EU sich auf eine neue völkerrechtliche Grundlage verständigen werden. Dabei ist es angesichts des weitreichenden Status quo kaum vorstellbar, dass Großbritannien und die EU im Verhältnis zueinander lediglich auf die Regelungen des WTO GPA zurückgreifen werden. Am wahrscheinlichsten ist daher der Abschluss eines bilateralen Abkommens, das flexible und sektorspezifische Abreden ermöglicht. Dabei ist zu erwarten, dass über die Einbeziehung bestimmter Sektoren, wie z.B. Verteidigung oder Energieversorgung, besonders intensiv gerungen wird.
Wenn Sie Fragen zu den konkreten Auswirkungen des Brexits auf Ihr Unternehmen oder Ihre Branche haben, stehen Ihnen Dr. Roland M. Stein und Dr. Pascal Friton jederzeit gern zur Verfügung.