Aus der Mottenkiste
Deutschlands Krisenresilienz auf dem Prüfstand: Notstandsgesetze
In Anbetracht der akuter werdenden Bedrohungslage, getrieben insbesondere durch zunehmende Zweifel an der Bündnistreue der USA und der dadurch hervorgerufenen Einschränkung der von ihr auf die europäischen Staaten projizierten konventionellen wie atomaren Abschreckung, stellt sich die Frage: Wie gut ist Deutschland auf eine weitere Verschärfung der Konflikte, insbesondere dem mit Russland, vorbereitet? Sollte die asymmetrische Kriegsführung – unter anderem – gegen Deutschland noch weitreichendere Konsequenzen haben, welche rechtlichen Instrumente stehen dem Staat zur Verfügung, um in einem äußeren oder inneren Notstand handlungsfähig zu bleiben? Dieses Briefing beleuchtet die bislang eher stiefmütterlich behandelten Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze, die für solche Situationen die notwendigen Instrumentarien zur Verfügung stellen (sollen).
Überblick: Notstandsgesetze
Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze werden auch als Notstandsgesetze bezeichnet, da ihre Anwendung grundsätzlich ausgeschlossen ist und unter dem (Anwendungs-) Vorbehalt der Feststellung bestimmter Krisensituationen steht.
Obwohl die Mehrzahl der bundesrechtlichen Sicherstellungsgesetze in den 1950er und 1960er Jahren im Kontext der Nachkriegszeit verabschiedet wurden, könnte ihr Zweck vor dem Hintergrund der geopolitischen „Zeitenwende“ nicht aktueller sein: Sicherstellungsgesetze dienen primär der Verteidigung sowie dem Schutz der Zivilbevölkerung – und damit der Erhöhung der Resilienz Deutschlands. Sie berechtigen zu staatlichen Eingriffen in eine Vielzahl von Wirtschaftsbereichen, etwa zum Rückgriff auf Betriebe der gewerblichen Wirtschaft zur Bedarfsdeckung der Zivilbevölkerung und der Streitkräfte (Wirtschaftssicherstellungsgesetz) oder zur Verpflichtung der Bereitstellung wesentlicher Luftverkehrsdienste (Verordnung zur Sicherstellung des Luftverkehrs).
Die Schwelle zur Aktivierung der Sicherheitsgesetze liegt hoch. Ihre „Entsperrung“ setzt die vorherige Feststellung eines äußeren Notstands voraus (Art. 80a GG-Junktim): Spannungsfall (Art. 80a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG), Zustimmungsfall (Art. 80a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG), Bündnisfall (Art. 80 Abs. 3 GG) oder Verteidigungsfall (Art. 115a Abs. 1 GG).
Vorsorgegesetze können außer in den zuvor genannten Fällen auch bei einem inneren Notstand zur Anwendung kommen, also bei besonderen Gefahren staatlich-gesellschaftlicher Art. Dazu zählen etwa „Naturkatastrophen“, „ein schwerer Unglücksfall“ (einschließlich eines terroristischen Anschlags) oder eine „Gefahr für den Bestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Bundes oder eines Landes“. Der Katalog der Vorsorgegesetze ist recht überschaubar, nicht zuletzt, weil der Katastrophenschutz primär Sache der Länder ist. Dem Bund steht nur im Bereich der Energiewirtschaft, der Sicherung der Ernährung, der Verkehrsleistungen sowie dem Postwesen und der Kommunikation eine Gesetzgebungskompetenz zu. Entsprechend hat der Bund seine bundesrechtlichen Regelungen zur Daseins- und Notfallvorsorge im Energiesicherungsgesetz, Ernährungssicherstellungs- und vorsorgegesetz, Verkehrsleistungsgesetz und im Postgesetz getroffen.
Aus Alt mach Neu
Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hat in den vergangenen Jahren einen ressortübergreifenden Revisionsprozess eingeleitet. Ziel dieses Prozesses ist eine umfassende Überarbeitung, Modernisierung, Nachbesserung und Vereinheitlichung der Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze. Obwohl in diesem Zusammenhang bereits einige Änderungen und Anpassungen erfolgt sind und der Prozess noch nicht abgeschlossen ist, zeigt ein Blick in die Sicherstellungsgesetze, dass weiterhin ein – teils erheblicher – Reformbedarf besteht. Dafür sollen hier zwei Beispiele genannt werden:
Es fehlt an eindeutigen materiellen Voraussetzungen für die Feststellung der jeweiligen äußeren Notstände. Art. 80a GG regelt lediglich die formellen Voraussetzungen, zum Beispiel die Feststellung des Spannungsfalles durch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Die materiellen Anforderungen an die verschiedenen Notstände sind jedoch weder im Grundgesetz noch einfachgesetzlich in anderen (Rechts-) Vorschriften bestimmt. Diese undurchsichtige Regelung bezweckt, der Exekutive ein möglichst flexibles Instrument zu gewähren. Die Kehrseite dieses hohen Grads an Flexibilität ist die erhebliche Rechtsunsicherheit. Da die Schwelle für die Feststellung eines Notstands unklar ist, ist insbesondere bei sich langsam steigernden Bedrohungslagen für Unternehmen unabsehbar, wann er ausgerufen wird (und ausgerufen werden kann). Für die Privatwirtschaft hat das erhebliche – mitunter sicherheitskritische – Auswirkungen auf Entwicklung, Produktion und Vertrieb, denn die Sicherstellungsgesetze berechtigen nicht nur zur Anforderung bestimmter Güter und Leistungen, sondern z.B. auch zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen zum Zweck der Sicherstellung von Arbeitsleistungen in der Bundeswehr oder dem Zivilschutz. In vielen Unternehmen wird sich ein plötzlich ausgerufener Notstand und der dadurch erheblich gestiegene Bedarf der öffentlichen Hand daher unweigerlich auf den regulären Betrieb, interne Abläufe, die Einteilung der Arbeitskräfte und die Beschaffung von Ressourcen auswirken. Das kann zu – vermeidbaren – Verzögerungen führen, die eine zügige Beschaffung erschweren. Und auch die verschiedenen Organe der Exekutive selbst können sich unter der derzeitigen Rechtslage kaum darauf vorbereiten, die Sicherstellungsgesetze effizient zu nutzen. Dieses Problem stellte sich in Zeiten des kalten Krieges noch nicht, weil damals detaillierte Pläne in den Schubladen der zuständigen Behörden lagen. Das ist jetzt nicht mehr der Fall.
Noch schwerer wiegt jedoch der Umstand, dass die Sicherstellungsgesetze die Realitäten des 21. Jahrhunderts, insbesondere den Zugriff auf Künstliche Intelligenz (KI), Daten, Software oder unbemannte Luftfahrzeuge, nicht abbilden. Das Bundesleistungsgesetz (BLG) ist beispielsweise ein Sicherstellungsgesetz, das zur Anforderung von Leistungen, etwa der Überlassung von Sachen oder Werkleistungen, berechtigt. Das BLG stellt nur auf „bewegliche Sachen“ ab, ohne diesen zu definieren. Jedenfalls unter Berücksichtigung der Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sind „Sachen“ nur körperliche Gegenstände, also gerade keine digitalen Güter oder Daten. Demnach wäre die Anforderung von Daten oder KI zum Zwecke der zivilen Verteidigung nicht möglich. Bei Software müsste danach unterschieden werden, ob diese verkörpert (CD-ROM, USB-Stick) ist oder nicht (Cloud-Lösung). Das führt nicht nur zu Rechtsunsicherheiten bei Anwendern und Betroffenen, sondern schwächt die (zivile) Verteidigungsfähigkeit Deutschlands erheblich.
Ausblick
Es wird deutlich, dass die Reform der Sicherstellungsgesetze unter der neuen Bundesregierung forciert werden muss. Das gilt nicht nur, um das hohe Potenzial der Vorschriften für die zivile Verteidigung auszuschöpfen, sondern auch um den Betroffenen Rechtssicherheit zu gewähren.
BLOMSTEIN berät umfassend zu Fragen der Verteidigung und Sicherheit. Wir verfolgen die aktuellen nationalen und internationalen Entwicklungen und unterstützen Sie bei Fragen rund um die Auswirkungen auf Ihr Unternehmen. Melden Sie sich jederzeit bei Dr. Christopher Wolters und Hanna Kurtz.