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EuGH marginalisiert Anwendungsbereich der Antragsfrist

Kurz vor Weihnachten hat der EuGH am 22. Dezember 2022 in der Rechtssache C-553/21 ein wegweisendes Urteil gesprochen. Auch in den Fällen, in denen die Antragsfrist für verbrausteuerrechtliche Entlastungsanträge abgelaufen ist, kann es gerechtfertigt sein, einen solchen Antrag dennoch zuzulassen. Die Rechtsprechung bestätigt eine mittlerweile gefestigte Meinung des EuGH in Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Untenstehend finden Sie die Einzelheiten zu dem Fall:

Der Sachverhalt: Antrag auf Steuerentlastung nach Ablauf der Antragsfrist

Im Ausgangsrechtsstreit stellte Shell beim Hauptzollamt einen Antrag auf Steuerentlastung für Energieerzeugnisse, die sie von August bis November 2010 zu betrieblichen Zwecken verwendet hatte. Die Energiesteuerrichtlinie gestattet den Mitgliedstaaten, in solchen Fällen eine Entlastung von der Energiesteuer zu gewähren, wovon Deutschland Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 1 EnergieStG). Es war unstreitig, dass die (materiellen) Voraussetzungen dieser Vorschrift für die Steuerentlastung von Shell vorliegen. Die Entlastung wird aber gemäß § 100 Abs. 1 S. 3 EnergieStV nur gewährt, wenn der Entlastungsantrag beim Hauptzollamt spätestens bis zum 31. Dezember des Jahres gestellt wird, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Energieerzeugnisse verwendet worden sind. Der Antrag von Shell ist jedoch nach Auffassung des mit der Sache befassten Finanzgerichts erst im Mai 2012 beim Hauptzollamt eingegangen. Die Antragsfrist war demnach schon abgelaufen.

Im Jahr 2011 hatte das Hauptzollamt allerdings eine Außenprüfung bei Shell in Bezug auf das Jahr 2010 begonnen. Nach § 171 Abs. 4 AO hemmt eine Außenprüfung den Ablauf der Steuerfestsetzungsfrist, die ein Jahr ab Ende des Jahres der Steuerentstehung, also der Verwendung des Energieerzeugnisses, beträgt. Für die Antragsfrist hat der Verordnungsgeber eine entsprechende Regelung hingegen nicht getroffen.

Der EuGH hatte nun über die Frage zu befinden, ob es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, einen Entlastungsantrag zuzulassen, bei dessen Antragstellung zwar die Antragstellungs-, nicht aber die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.

Die Entscheidung: Auseinanderlaufen der beiden Fristen geht nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen

Der EuGH führt zunächst aus, dass die Mitgliedstaaten aufgrund der Energiesteuerrichtlinie eine Steuerentlastung für den betrieblichen Eigenverbrauch vorsehen können. Es sei dann Sache der Mitgliedstaaten, die Verjährungs- und Antragsfristen für Entlastungsanträge autonom festzulegen. Gegen solche Fristen sei grundsätzlich aufgrund der Rechtssicherheit, die die Fristen schaffen, nichts einzuwenden. Auch der Umstand, dass diese Fristen dazu führen, dass materielle Rechte nicht mehr wahrgenommen werden können, führe grundsätzlich nicht zu einem Verstoß gegen den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz. Dieser fordert nur, dass nationale Vorgaben die Ausübung der Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Diese Schranke ihrer verfahrensrechtlichen Autonomie müssten die Mitgliedstaaten auch bei fakultativen Steuerbegünstigungen beachten, die vorzusehen die Energiesteuerrichtlinie ihnen nicht vorschreibt, sondern nur gestattet.

Es liege ein Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz vor, wenn ein Mitgliedstaat sich grundsätzlich für die Gewährung einer Steuerentlastung entscheidet, der Wirtschaftsteilnehmer aber unabhängig von den Umständen des Einzelfalls sein Recht verlieren könne, weil Antrags- und Festsetzungsfrist im Fall einer Außenprüfung nicht parallel verlaufen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stütze diese Ansicht. Die von den Fristen gewährleistete Rechtssicherheit sei nicht beeinträchtigt, solange die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen sei.

Der Kontext: Festigung der EuGH-Rechtsprechung zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Die Entscheidung bestätigt eine Rechtsprechungslinie des EuGH, die nun als gefestigt zu beschreiben ist. Bei Vorliegen der materiellen, aber beim Fehlen von formellen Voraussetzungen einer Steuerbefreiung oder -entlastung muss aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes der materielle Anspruch zur Geltung gebracht werden. Im Verbrauchsteuerrecht hat der EuGH das zunächst für die in der Energiesteuerrichtlinie vorgesehenen obligatorischen Steuerbefreiungen verlangt (siehe z.B. EuGH, Urt. v. 2. Juni 2016, C-355/14, Polihim-SS; Urt. v. 27. Juni 2018, C‑90/17, Turbogás; Urt. v. 7. November 2019, C-68/18, Petrotel-Lukoil). Auch im Mehrwehrsteuerbereich hat der EuGH entschieden, dass die Berichtigung der Mehrwertsteuererklärung auch nach Ablauf der allgemeinen Verjährungsfrist möglich sein muss, selbst wenn der Steuerpflichtige den Vorsteuerabzug nicht rechtzeitig geltend gemacht hat. Ein Ausschluss erschiene unangemessen, wenn nicht Betrug oder Schädigung des Staatshaushaltes nachgewiesen werden könne (EuGH, Urt. v. 26. April 2018, C-81/17, Zabrus Siret).

Der vorliegende Fall reiht sich in diese Rechtsprechung ein und zeigt, dass bei Vorliegen der materiellen Voraussetzungen ein reiner Verstoß gegen die Antragsfrist, während die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, unbeachtlich ist. Die Besonderheit dieses Falles ist, dass der EuGH zum ersten Mal explizit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch bei einer fakultativen Steuerentlastung angewendet hat.

Der Ausblick: Das Ende der Antragsfrist?

Der entschiedene Fall betrifft die spezielle Situation, dass Antrags- und Festsetzungsfrist nicht parallel laufen. Es ist nun klar, dass für all die Fälle, in denen die Festsetzungsfrist gehemmt ist, die Antragsfrist keine Rolle mehr spielen dürfte. Solange die Festsetzungsfrist läuft, kann also nicht nur der Staat Steuern festsetzen, sondern auch der Steuerpflichtige Entlastungen und Befreiungen beantragen. Das erscheint nur fair. Ferner bestätigt die Entscheidung, dass auch bei fakultativen Steuerbegünstigungen der Verhältnismäßigkeits- und Effektivitätsgrundsatz zur Geltung gebracht werden muss. Entscheidet sich ein Mitgliedstaat für die Einführung einer fakultativen Steuerbefreiung, muss dieser Entlastungstatbestand unter europarechtlichen Gesichtspunkten wie die obligatorisch einzuführenden Tatbestände behandelt werden.

Der EuGH überlässt die Umsetzung der Steuerbefreiungs- und entlastungstatbestände weiterhin der nationalen Gesetzgebung. Diese könnte sich aufgrund des Urteils veranlasst sehen, über die im Verbrauchsteuerrecht sehr kurze Antragsfrist von einem Jahr nachzudenken.

Das Urteil schafft jedenfalls die Ungerechtigkeit ab, dass zwar der Staat Steuer erheben darf, wenn die Festsetzungsfrist noch läuft, der Steuerpflichtige aber bei Versäumnis der Antragsfrist nicht – obgleich die Versäumnis meist unverschuldet eintritt, weil der Steuerpflichtige nichts vom Entstehen der Steuer weiß.

Im Übrigen werden wir hinsichtlich der Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für andere formelle Voraussetzungen für die Gewährung von Steuervergünstigungen die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH aufmerksam beobachten. Dessen Urteil verhält sich einstweilen nicht zu der naheliegenden Frage, ob sich nicht der Effektivitäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach den Umständen des Einzelfalls auch gegenüber anderen „formellen“ Voraussetzungen als der Antragsfrist, wie z.B. Erlaubnisvorbehalten, Pflichten zur Verwendung amtlicher Formulare oder zu Hinweisen in der Warenrechnung und dergleichen, ja sogar der Festsetzungsfrist durchsetzen kann.

Die Empfehlung: Überprüfung der Steuerbefreiungs- und Entlastungsanträge

Für Steuerpflichtige bedeutet das Urteil, dass sie immer dann, wenn eine Außenprüfung für vergangene Jahre vorgenommen wird und dort Sachverhalte auftreten, die eine Steuerentstehung zur Folge haben, stets prüfen sollten, ob nicht noch ein Entlastungsantrag gestellt werden kann. Das EuGH-Urteil gibt dafür nun den hinreichenden Spielraum.

BLOMSTEIN wird die weiteren Entwicklungen in Rechtsprechung und Verwaltungspraxis aufmerksam verfolgen. Bei Fragen stehen Ihnen Dr. Roland M. Stein und Dr. Leonard von Rummel jederzeit gern zur Verfügung.